Brand in mehrstöckigem Wohnhaus durch Beschuss in Bachmut, Donezk. Foto von 10. Dezember, 2022.

Open-Source-Daten im Krieg in der Ukraine

Bei einigen der beeindruckendsten sozialen Innovationen geht es nicht darum, etwas Neues zu erfinden, sondern etwas bereits Vorhandenes auf innovative Weise zu nutzen. So funktioniert Open-Source-Intelligence: Journalist*innen, NGOs oder auch Hobbyermittler*innen nutzen öffentlich zugängliche Daten, um alles von Korruptionsskandalen bis hin zu Menschenrechtsverletzungen aufzudecken. Zu Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 machte sich eine Gruppe von Frauen daran, eine Open-Source-Datenbank zur Dokumentation des Krieges zu erstellen. Seitdem haben sie Tausende von Videos und Fotos sowie über 150 Zeugenaussagen gesammelt, die die Gräueltaten Russlands dokumentieren.

Am 26. Februar 2022 wurde Olha Lykova von einer Kollegin zur Teilnahme an einem Projekt eingeladen. „Ich wusste nicht, was wir in diesem Projekt tun würden. Ich bin nur beigetreten, um mich vor dem Untergang oder Nichtstun zu retten“, erklärte sie. Russland hatte seine Invasion in der Ukraine erst zwei Tage zuvor gestartet. Lykovas Stadt Kiew stand kurz vor einer gewaltsamen Belagerung [1]. Wie viele Frauen im Land zu dieser Zeit konnte sie nur Schutz suchen und warten. „Du versuchst dich zu beschäftigen“, sagte Lykova.

Das Internet war jedoch immer noch da und füllte sich bereits mit Filmmaterial, Informationen und Daten, die den Verlauf der Invasion dokumentierten. Lykova und ihre Kolleg*innen begannen alles zu sammeln, was sie konnten, speicherten es in einer Datenbank und organisierten es nach Dateinamen, Datum und Schlüsselwörtern. Sie machten die Datenbank öffentlich zugänglich und nannten sie Dattalion – eine Kombination aus den Wörtern „Daten“ und „Bataillon“. Nach eigener Aussage ist Dattalion nun die größte Open-Source-Datenbank, die den Krieg dokumentiert [2]. Lykova fungiert als Head of Data Collection der Gruppe.

EINE OPEN-SOURCE-REVOLUTION

Offene Daten – Daten, auf die laut Open Knowledge Foundation Menschen frei zugreifen, nutzen und weiterverbreiten können – sind nichts Neues. Seit den frühen 2010er Jahren wird sogenannte Open-Source-Intelligenz (OSINT) eingesetzt, um Menschenrechtsverletzungen in Kriegsgebieten aufzudecken – zum Beispiel von Blogger Eliot Higgins, der den Einsatz chemischer Waffen durch die Streitkräfte von Bashar Al-Assad im Jahr 2013 öffentlich machte, wie hier bei Huffpost beschrieben wird. Seitdem ist OSINT dank des Aufkommens von sozialen Medien in Videoform, technologischen Fortschritten und öffentlich zugänglichen Satellitenbildern deutlich verbessert.

Für Dada Lyndell, eine Datenjournalistin des unabhängigen russischen Medienunternehmens The Insider, sind Open-Source-Daten eine wichtige Ressource für die Berichterstattung über den Krieg. „Alles begann im Jahr 2021“, sagte sie. Im November desselben Jahres nutzten Journalist*innen, Analyst*innen und Amateurermittler*innen Satellitenaufnahmen und Videos aus sozialen Medien, um russische Militäraktivitäten an der ukrainischen Grenze zu verfolgen. In den Monaten vor der Invasion bestätigten Open-Source-Daten eine anhaltende Befürchtung: Der russische Präsident Wladimir Putin bereitete sich auf einen groß angelegten Angriff vor.

Wie der Economist es ausdrückt, untergräbt OSINT die staatlichen „Monopole“ für Geheimdienste und befähigt so die Zivilgesellschaft, staatliche Narrative infrage zu stellen [3]. Bürger*innen sind in der Lage, unabhängige Recherchen ausschließlich anhand öffentlich zugänglicher Daten durchzuführen, ohne dass exklusive Kontakte, Whistleblower*innen oder Informationslecks erforderlich sind. Darüber hinaus kann jede*r solche Investigationen selbst reproduzieren und überprüfen. Das macht Open-Source-Daten im Konflikt sehr wertvoll. „Es gibt nicht viele vertrauenswürdige offizielle Daten, die während des Krieges produziert werden können“, erklärt Lyndell.

Quelle: Dattalion

DIE DEMOKRATISIERUNG DES NARRATIVS

In diesem Sinne demokratisiert Dattalion die Erzählung des Krieges. Lykova bringt die Große Hungersnot in der Sowjetukraine zwischen 1932 und 1933 zur Sprache, die von vielen als Völkermord der Sowjetunion unter Stalin angesehen wird [4]. Sie sagt, dass Russland durch Fehlinformationen und Propagandakampagnen „versucht hat, die Erinnerung auszulöschen“. 

Mit einer Ressource wie Dattalion wäre das laut Lykova nicht möglich gewesen, da es Ereignisse in Echtzeit dokumentiert und im Internet veröffentlicht. Es ist „wie ein Geschichtsbuch“, sagt sie.

DER KRIEG, LAUT ZEUG*INNEN​

Open-Source-Informationen gehen über offizielle Quellen hinaus – sie können ein breites Spektrum an Daten enthalten, darunter Aussagen und Filmmaterial, das von Zeug*innen vor Ort gesammelt wurde. Seit Februar 2022 hat Dattalion über 150 verifizierte Zeugenaussagen gesammelt, die das Leben während der russischen Invasion beschreiben. Auf der unteren Karte kannst du sehen, wie sich der Krieg laut der Zeugenaussagen im ganzen Land abspielt.

DIE FALLSTRICKE

So wie OSINT ein mächtiges Werkzeug gegen Fehlinformationen sein kann, kann es ihnen auch zum Opfer fallen. Schließlich findet die überwiegende Mehrheit der Open-Source-Ermittlungen online statt. Laut Lyndell ist das Herausfiltern von zuverlässigen Daten aus der großen Menge an (Fehl-)Informationen die größte Herausforderung. Sogar Journalist*innen sind anfällig dafür. „Wir müssen den Leuten beibringen, nichts zu glauben, selbst wenn man es sehr gerne glauben möchte“, erklärt Lyndell. Das Problem, sagt sie, ist, dass Menschen Schwierigkeiten haben, objektiv zu bleiben.

Als Open-Source-Datenbank ist die Aufgabe von Dattalion nicht das Verifizieren, sondern das Archivieren. Dennoch ist das Team in Bezug auf seine Quellen so transparent wie möglich. In der Datenbank gefundene Inhalte werden nach einem dreistufigen System gekennzeichnet: offiziell (official), vertrauenswürdig (trusted) und nicht verifiziert (not verified). Material, das beispielsweise über soziale Medien von Zeug*innen gesammelt wurde, wird als nicht verifiziert markiert. Manchmal, erklärt Lykova, spüren Datensammler*innen Personen auf, von denen sie wissen, dass sie von der russischen Aggression betroffen waren, und bitten sie um eine detaillierte Zeugenaussage. Diese Aussagen durchlaufen einen strengeren Überprüfungsprozess und werden später in einer öffentlich zugänglichen Google-Tabelle geteilt, wobei identifizierbare Informationen verborgen sind. Wenn Journalist*innen, NGOs oder Filmemacher*innen solche Personen kontaktieren möchten, übernimmt das Team von Dattalion den ersten Kontakt.

Quelle: Dattalion

Dattalion dient auch einem humanitären Zweck. Laut Lykova haben sich humanitäre Organisationen um Hilfe gekümmert, nachdem sie Aussagen von Zeug*innen gelesen hatten, die den Zugang zu Nahrung und Unterkünften verloren hatten. Darüber hinaus bietet es ein umfassendes Archiv potenzieller Kriegsverbrechen, die von Russland während der Invasion begangen wurden.

„Unsere Mission ist jetzt, die Daten zu retten“, erklärt Lykova. „Damit sie nicht im Internet zerstört werden oder verschwinden.“

Dattalion ist eine in der Ukraine und den USA registrierte NGO, die ausschließlich von Freiwilligen betrieben wird. Du kannst ihre Bemühungen durch eine Spende unterstützen.

Natalie Lamprou

Bildnachweise und Quellen

Bilder: Dattalion 

Headerbild: Dattalion 

[1] Bundeszentrale für politische Bildung: Chronik: 24. Februar bis 1. März 2022 (2022)

[2] https://dattalion.com/

[3] The Economist: Open-source intelligence challenges state monopolies on information (2021)

[4] Bundeszentrale für politische Bildung: Analyse: 80 Jahre Holodomor – die Große Hungersnot in der Ukraine (2013)

Ideen, die die Welt verändern sollen – damit haben sich 14 Studierende des Studienjahrgangs OR21 im Rahmen des Webprojekts 22/23 beschäftigt. Leider bekommen viele soziale Innovationen nicht genug Aufmerksamkeit. Das wollen wir durch unsere Beiträge ändern.

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In unserem Magazin „Einblicke“ veröffentlichen wir Studierende regelmäßig die Ergebnisse unserer Arbeit. 

Brand in mehrstöckigem Wohnhaus durch Beschuss in Bachmut, Donezk. Foto von 10. Dezember, 2022.

Open-Source-Daten im Krieg in der Ukraine

Ideen, die die Welt verändern sollen – damit haben sich 14 Studierende des Studienjahrgangs OR21 im Rahmen des Webprojekts 22/23 beschäftigt. Leider bekommen viele soziale Innovationen nicht genug Aufmerksamkeit. Das wollen wir durch unsere Beiträge ändern.

Bei einigen der beeindruckendsten sozialen Innovationen geht es nicht darum, etwas Neues zu erfinden, sondern etwas bereits Vorhandenes auf innovative Weise zu nutzen. So funktioniert Open-Source-Intelligence: Journalist*innen, NGOs oder auch Hobbyermittler*innen nutzen öffentlich zugängliche Daten, um alles von Korruptionsskandalen bis hin zu Menschenrechtsverletzungen aufzudecken. Zu Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 machte sich eine Gruppe von Frauen daran, eine Open-Source-Datenbank zur Dokumentation des Krieges zu erstellen. Seitdem haben sie Tausende von Videos und Fotos sowie über 150 Zeugenaussagen gesammelt, die die Gräueltaten Russlands dokumentieren.

Am 26. Februar 2022 wurde Olha Lykova von einer Kollegin zur Teilnahme an einem Projekt eingeladen. „Ich wusste nicht, was wir in diesem Projekt tun würden. Ich bin nur beigetreten, um mich vor dem Untergang oder Nichtstun zu retten“, erklärte sie. Russland hatte seine Invasion in der Ukraine erst zwei Tage zuvor gestartet. Lykovas Stadt Kiew stand kurz vor einer gewaltsamen Belagerung [1]. Wie viele Frauen im Land zu dieser Zeit konnte sie nur Schutz suchen und warten. „Du versuchst dich zu beschäftigen“, sagte Lykova.

Das Internet war jedoch immer noch da und füllte sich bereits mit Filmmaterial, Informationen und Daten, die den Verlauf der Invasion dokumentierten. Lykova und ihre Kolleg*innen begannen alles zu sammeln, was sie konnten, speicherten es in einer Datenbank und organisierten es nach Dateinamen, Datum und Schlüsselwörtern. Sie machten die Datenbank öffentlich zugänglich und nannten sie Dattalion – eine Kombination aus den Wörtern „Daten“ und „Bataillon“. Nach eigener Aussage ist Dattalion nun die größte Open-Source-Datenbank, die den Krieg dokumentiert [2]. Lykova fungiert als Head of Data Collection der Gruppe.

EINE OPEN-SOURCE-REVOLUTION

Offene Daten – Daten, auf die laut Open Knowledge Foundation Menschen frei zugreifen, nutzen und weiterverbreiten können – sind nichts Neues. Seit den frühen 2010er Jahren wird sogenannte Open-Source-Intelligenz (OSINT) eingesetzt, um Menschenrechtsverletzungen in Kriegsgebieten aufzudecken – zum Beispiel von Blogger Eliot Higgins, der den Einsatz chemischer Waffen durch die Streitkräfte von Bashar Al-Assad im Jahr 2013 öffentlich machte, wie hier bei Huffpost beschrieben wird. Seitdem ist OSINT dank des Aufkommens von sozialen Medien in Videoform, technologischen Fortschritten und öffentlich zugänglichen Satellitenbildern deutlich verbessert.

Für Dada Lyndell, eine Datenjournalistin des unabhängigen russischen Medienunternehmens The Insider, sind Open-Source-Daten eine wichtige Ressource für die Berichterstattung über den Krieg. „Alles begann im Jahr 2021“, sagte sie. Im November desselben Jahres nutzten Journalist*innen, Analyst*innen und Amateurermittler*innen Satellitenaufnahmen und Videos aus sozialen Medien, um russische Militäraktivitäten an der ukrainischen Grenze zu verfolgen. In den Monaten vor der Invasion bestätigten Open-Source-Daten eine anhaltende Befürchtung: Der russische Präsident Wladimir Putin bereitete sich auf einen groß angelegten Angriff vor.

Wie der Economist es ausdrückt, untergräbt OSINT die staatlichen „Monopole“ für Geheimdienste und befähigt so die Zivilgesellschaft, staatliche Narrative infrage zu stellen [3]. Bürger*innen sind in der Lage, unabhängige Recherchen ausschließlich anhand öffentlich zugänglicher Daten durchzuführen, ohne dass exklusive Kontakte, Whistleblower*innen oder Informationslecks erforderlich sind. Darüber hinaus kann jede*r solche Investigationen selbst reproduzieren und überprüfen. Das macht Open-Source-Daten im Konflikt sehr wertvoll. „Es gibt nicht viele vertrauenswürdige offizielle Daten, die während des Krieges produziert werden können“, erklärt Lyndell.

Quelle: Dattalion

DIE DEMOKRATISIERUNG DES NARRATIVS

In diesem Sinne demokratisiert Dattalion die Erzählung des Krieges. Lykova bringt die Große Hungersnot in der Sowjetukraine zwischen 1932 und 1933 zur Sprache, die von vielen als Völkermord der Sowjetunion unter Stalin angesehen wird [4]. Sie sagt, dass Russland durch Fehlinformationen und Propagandakampagnen „versucht hat, die Erinnerung auszulöschen“. 

Mit einer Ressource wie Dattalion wäre das laut Lykova nicht möglich gewesen, da es Ereignisse in Echtzeit dokumentiert und im Internet veröffentlicht. Es ist „wie ein Geschichtsbuch“, sagt sie.

DER KRIEG, LAUT ZEUG*INNEN​

Open-Source-Informationen gehen über offizielle Quellen hinaus – sie können ein breites Spektrum an Daten enthalten, darunter Aussagen und Filmmaterial, das von Zeug*innen vor Ort gesammelt wurde. Seit Februar 2022 hat Dattalion über 150 verifizierte Zeugenaussagen gesammelt, die das Leben während der russischen Invasion beschreiben. Auf der unteren Karte kannst du sehen, wie sich der Krieg laut der Zeugenaussagen im ganzen Land abspielt.

DIE FALLSTRICKE

So wie OSINT ein mächtiges Werkzeug gegen Fehlinformationen sein kann, kann es ihnen auch zum Opfer fallen. Schließlich findet die überwiegende Mehrheit der Open-Source-Ermittlungen online statt. Laut Lyndell ist das Herausfiltern von zuverlässigen Daten aus der großen Menge an (Fehl-)Informationen die größte Herausforderung. Sogar Journalist*innen sind anfällig dafür. „Wir müssen den Leuten beibringen, nichts zu glauben, selbst wenn man es sehr gerne glauben möchte“, erklärt Lyndell. Das Problem, sagt sie, ist, dass Menschen Schwierigkeiten haben, objektiv zu bleiben.

Als Open-Source-Datenbank ist die Aufgabe von Dattalion nicht das Verifizieren, sondern das Archivieren. Dennoch ist das Team in Bezug auf seine Quellen so transparent wie möglich. In der Datenbank gefundene Inhalte werden nach einem dreistufigen System gekennzeichnet: offiziell (official), vertrauenswürdig (trusted) und nicht verifiziert (not verified). Material, das beispielsweise über soziale Medien von Zeug*innen gesammelt wurde, wird als nicht verifiziert markiert. Manchmal, erklärt Lykova, spüren Datensammler*innen Personen auf, von denen sie wissen, dass sie von der russischen Aggression betroffen waren, und bitten sie um eine detaillierte Zeugenaussage. Diese Aussagen durchlaufen einen strengeren Überprüfungsprozess und werden später in einer öffentlich zugänglichen Google-Tabelle geteilt, wobei identifizierbare Informationen verborgen sind. Wenn Journalist*innen, NGOs oder Filmemacher*innen solche Personen kontaktieren möchten, übernimmt das Team von Dattalion den ersten Kontakt.

Quelle: Dattalion

Dattalion dient auch einem humanitären Zweck. Laut Lykova haben sich humanitäre Organisationen um Hilfe gekümmert, nachdem sie Aussagen von Zeug*innen gelesen hatten, die den Zugang zu Nahrung und Unterkünften verloren hatten. Darüber hinaus bietet es ein umfassendes Archiv potenzieller Kriegsverbrechen, die von Russland während der Invasion begangen wurden.

„Unsere Mission ist jetzt, die Daten zu retten“, erklärt Lykova. „Damit sie nicht im Internet zerstört werden oder verschwinden.“

Dattalion ist eine in der Ukraine und den USA registrierte NGO, die ausschließlich von Freiwilligen betrieben wird. Du kannst ihre Bemühungen durch eine Spende unterstützen.

Natalie Lamprou

Bildnachweise und Quellen

Bilder: Dattalion 

Headerbild: Dattalion 

[1] Bundeszentrale für politische Bildung: Chronik: 24. Februar bis 1. März 2022 (2022)

[2] https://dattalion.com/

[3] The Economist: Open-source intelligence challenges state monopolies on information (2021)

[4] Bundeszentrale für politische Bildung: Analyse: 80 Jahre Holodomor – die Große Hungersnot in der Ukraine (2013)

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